»Wir stehen auf den Schultern von Riesinnen«: Expertinnenrunde über Herausforderungen und Errungenschaften der vergangenen 50 Jahre

  • Vollbesetzte Aula beim 12. Erzählcafé zum Thema »(Un)Sichtbare Frauen?!«

Gütersloh, 15. März 2024

So viele wie noch nie haben das »Erzählcafé« zum Thema »(Un)Sichtbare Frauen?!« besucht. Bei der zwölften Ausgabe der beliebten Veranstaltung tauschten sich die rund 60 Teilnehmer mit Expertinnen von frauenpolitischen Projekten und Initiativen in der vollbesetzten Aula der #Volkshochschule #Gütersloh aus. Die Moderation übernahm Dr. Julia Paulus, Historikerin am »#LWL Institut für westfälische Regionalgeschichte« und als Expertin für Frauengeschichte und Geschlechtergeschichte Verfasserin dieses Themas für die Publikation zur Gütsler Stadtgeschichte, die die Jahrzehnte ab 1945 umfassen wird und im Jubiläumsjahr 2025 erscheint. 

Bei der Vorstellung der 4 Expertinnen auf dem Podium machte Dr. Julia Paulus anschaulich deutlich, welche Meilensteine sie – stellvertretend für alle Frauen der Stadt – auf dem Weg hin zur Gleichberechtigung der Geschlechter bereits erfolgreich bewältigt haben. Das Thema »Politische Partizipation und Emanzipation« wurde durch Marianne Kohlmeyer vertreten, Mitbegründerin des »Politischen Frauenclubs« von 1970 bis 1974 und ehemalige stellvertretende Bürgermeisterin von Gütersloh. Sie berichtete von den Anfängen ihrer politischen Karriere in den 1960er Jahren und welchen Hindernissen, aber auch Chancen sie damals als junge engagierte Lokalpolitikerin begegnet sei. »Wir wollten die Frauen in Gütersloh mit aktuellen politischen Themen beglücken«, so Marianne Kohlmeyer rückblickend, »es war eine wichtige Zeit, die Frauen zu motivieren, für politische Ämter zu kandidieren.« Und die Leiterin des 1980 gegründeten Gütersloher Frauenhauses, Petra Strauss, wies darauf hin: »Den Wohlstand einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit ihren Frauen und Kindern umgeht. Da ist noch einiges zu üben. Die Unterstützung durch unsere Mitstreiterinnen, die Verbindung und Solidarität, das ist es, was uns auf diesem Weg trägt.« Als Expertin für Fragen des Wiedereinstiegs von Frauen in die Erwerbsarbeit war Hilde Knüwe eingeladen. »Damals«, so die Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt im SGB II des Jobcenters Kreis Gütersloh über ihre Tätigkeit, »wollten wir die Frauenerwerbstätigkeit überhaupt sichtbar machen.« Demgegenüber sähen heute viele Arbeitgeber in Maßnahmen der Familienfreundlichkeit einen wesentlichen Standortfaktor ihres Betriebs. »Trotzdem ist noch viel Luft nach oben«, resümierte Knüwe. Inge Trame arbeitet bereits seit ihrem Amtsantritt 1992 für mehr Geschlechterdemokratie. Das Fazit der Gleichstellungsbeauftragten: »Es ist wichtig, dass wir uns nicht in Geschlechterklischees verlieren, sondern dass wir eine Wahlfreiheit haben. Wir haben das Bewusstsein, aber manchmal fehlen die Taten.«Â 

Beim gemeinsamen Blick nach vorn machten die Teilnehmerinnen deutlich, dass all diese Themen nichts an Aktualität verloren haben, trotz aller Errungenschaften heute: Noch immer gebe es einen deutlichen Gender Pay Gap, der deutlich macht, dass erwerbstätige Frauen im Vergleich zu männlichen Arbeitnehmern für die gleiche Art von Tätigkeit schlechter bezahlt werden, und noch immer unterbrächen in erster Linie Frauen ihre Erwerbstätigkeit zugunsten von #Care Arbeit. Nicht zuletzt aus diesen Gründen seien noch heute vor allem Frauen von Altersarmut betroffen wie auch von häuslicher #Gewalt. Alles Themen, die mithin die gesamte Gesellschaft beträfen, so die Expertinnen einhellig. 

Dr. Mariella Gronenthal, stellvertretende Leiterin der Gütsler Volkshochschule (#VHS) und Teilnehmerin im Plenum, sprach den Expertinnen ihren Respekt aus: »Wir müssen uns klarmachen, dass wir auf den Schultern von Riesinnen stehen.« Zugleich warf sie die Frage auf: »Wo sind die Männer? Wie schaffen wir es, die Männer für den Feminismus zu interessieren?« »Gleichstellung«, so Simone Hanneforth vom »Grünen Frauenforum«, »geht nur im Miteinander. Dazu müssen auch Männer für Themen der Geschlechtergerechtigkeit sensibilisiert werden.« Eine Möglichkeit, hier Veränderungen zu schaffen, sieht die frühere Gütersloher Bürgermeisterin Maria Unger in der gleichberechtigten Teilhabe an #Politik. Dazu sei eine »paritätische Besetzung in politischen Gremien« notwendig, was auch für den Gütersloher Stadtrat gelte. Als Best Practice Beispiel führte Unger die Stadt München an, die für ihre kommunalpolitische Arbeit den Gender Award verliehen bekommen habe. »Und das«, so Maria Unger, »würden wir doch in Gütersloh auch schaffen, oder?« Allerdings sei Armut immer noch weiblich, ergänzte Almuth Wessel, ehemaliges Ratsmitglied für die Partei Die Linke, »und vieles ist nur möglich, wenn Frau das nötige Kleingeld hat«. Zum Thema Lohnarbeit merkte die ehemalige Pressesprecherin der Stadt Gütersloh, Susanne Zimmermann, an, dass viele Berufe in Teilzeit in der freien Wirtschaft finanziell nicht lukrativ seien. Hier könne der öffentliche Dienst mit seinen flexiblen Arbeitsmodellen als gutes Beispiel vorangehen. Zum Abschluss des Abends dankte Dr. Julia Paulus allen Anwesenden für ihr großes Interesse und ihre engagierte Beteiligung und regte an, die angesprochenen Themen in zukünftigen Erzählcafés weiter zu vertiefen.

Das Format »Erzählcafé« existiert seit 2019 und wurde im Zuge der Kulturentwicklungsplanung der Stadt Gütersloh als ein wichtiger Baustein der mündlichen Erinnerungskultur ins Leben gerufen. Zu diesem Zweck können die Veranstaltungen auch im Nachgang online als Videodokumentation nachvollzogen werden. Das #Erzählcafé findet in der Regel 4 mal pro Jahr statt. Das nächste Erzählcafé widmet sich dem Thema Feuerwehr, der genaue Termin wird noch bekanntgegeben. Ebenfalls im Rahmen der Erinnerungskultur findet die Geschichtswerkstatt zweimal im Jahr statt; die nächste am Montag, 6. Mai 2024, um 18 Uhr in der #Holtkämperei in #Isselhorst.